Page 107 - Ebook-TragendeGrund
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<Hannes, jetzt weiss ich wirklich nicht mehr weiter, sie haben mir die
Dachmansarde gekündigt auf den nächsten Termin, sie wollen das Haus
renovieren>. Alarm Rot! Gerade jetzt, nicht auch noch diese feste Säule
in ihrem Leben! Die Räume, die so viele Gespräche, so viele Standpauken
an die Mächtigen der Welt, so viel Leben aufgenommen hatten! Ich hatte
den Eindruck, dass dies ein Schlag sei, kaum ein halbes Jahr nach dem
Ende im Jugendcafé, den Anny vielleicht wirklich nicht überleben würde!
Ich fühlte mich absolut hilflos daneben, kaum eine praktische Mög-
lichkeit, ihr zu helfen, ich war mit diesem Verkleben der Stadt mit Wer-
besprüchen beschäftigt! So absurd, ich hängte massenweise Einladungen
auf, sich am Leben zu beteiligen, und dem liebsten Menschen gingen alle
Türen zu! Schon wieder tiefste Not!
Wenn es kein Leid gäbe, könnte man auch nicht die Erfahrung
der Freude machen. Es ist das Leid, das uns hilft, Freude zu erleben.
Alles wird durch sein Gegenteil erkannt; werden Schmerz tief er-
lebt, kann auch die Freude stärker ausdrücken. Wenn es kein Leid
gäbe, wäre das Leben höchst uninteressant; denn wenn das Leid uns
durchdringt, ist die Empfindung nach dem Leid eine tiefere Freude.
Wenn wir immer nur Freude erfahren hätten, könnten wir nicht die
Tiefe des Lebens ermessen! Denn was ist Leid? Leid ist im wahren
Sinne des Wortes die tiefste Freude.
Irgendwie hoben mich diese Worte aus dem Jammertal, in das ich da
beinahe hineingeraten wäre; genau das, was Anny jetzt nicht brauchte!
Zum Glück konnte ich das, was nötig war, mit Mäni und Ruth bespre-
chen, und gemeinsam konnten wir Annys Mut soweit wieder aufrichten,
dass sie sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung machen konnte.
Schliesslich war ihre Fröhlichkeit wieder da, als sie mir nicht viel spä-
ter berichtete: <Ich habe doch noch etwas gefunden, in Oerlikon, an der
Greifenseestrasse>.
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