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Doch erschreckte mich ihr Anblick schon etwas, sie war sehr zer-
         brechlich geworden, fast durchsichtig. Sie konnte nur mit Mühe gehen,
         hatte sich beim Öffnen einer Schublade die Elle gebrochen, ihre Kno-
         chen hielten nicht mehr so viel aus.

            Doch dies war nur kurz Thema, wir befassten uns damit, was die
         Jungen brauchten - und so einigten wir uns, dass Anny alle Gespräche
         führte, die in der Arbeit notwendig waren, und ich mir die Arbeitszeit
         so einrichten würde, dass ich die Nachmittage nach Bedarf freimachen
         könnte, um Besuche bei Behörden oder Kliniken doch einrichten zu kön-
         nen.

            Es war gar keine Frage, unser Ja galt ungebrochen weiter, natürlich
         — auch wenn die äusseren Umstände ganz anders waren und uns dop-
         pelten Aufwand verursachten! Und als ich an einem der folgenden Tage
         durch das Niederdorf ging, war das Gefühl des Vertrauens wieder da,
         intakt, vollständig, weiter sogar! Willi-Willi erzählte über die Entwicklung
         und wie sich die Jugendcafé-Gäste fühlten. So hatte sich unsere Arbeit
         erweitert,  neu  herausgeschält  aus  der  alten  Form.  Wir  waren  zeitlich
         beschränkter als zuvor, doch war dies völlig zweitrangig! Das Vertrauen
         hatte einfach einen viel weiteren Raum erhalten.

            Auch heute ist es noch so; von Zeit zu Zeit treffe ich Francis auf der
         Gasse, der kurze Dialog ist für uns beide eine gleich tiefe Freude. <Hoi
         Hansli, come stai? Hättest du mir vielleicht fünf Stutz, dass ich dich zum
         Kaffee  einladen  kann?>  Wir  sitzen  zusammen,  freuen  uns  über  die
         Freundschaft, die über all die Jahre ungebrochen geblieben ist. Ich will
         ihm zehn Franken geben, weil er wirklich immer knapp leben muss. Doch
         er bleibt bei seinem Wort, lädt mich ein und nimmt für sich einen Kaffee.
         Den Rest will er nicht, es geht ihm um Freundschaft! Ich freue mich jedes
         Mal sehr! Ebenso geht es mir mit all den anderen , Toni, Yoyo, Kurt…

            Ich übernahm auch die Beistandschaft für Willy (dem Freund von
         Willi-Willi), dies blieb so über viele Jahre hinweg. Der Kontakt mit Annys
         Bekannten Ruth und Mäni wurde tiefer, und wir bildeten eine Art neu-


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