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Er kann alle Religionen wie verschiedene Formen einer gleichen
Schule sehen; die einen sind in der einen Klasse, die anderen in einer
höheren, wiederum andere studieren das Leben tiefer. Und in jeder
Schulklasse gibt es Schüler, die spielen wollen.
‹Ich suchte, doch konnte ich Dich nicht finden; ich rief laut nach
Dir und stand auf dem Minarett; ich läutete die Tempelglocke beim
Auf– und Untergehen der Sonne; ich badete vergebens im Ganges;
ich kam enttäuscht von der Ka‘aba zurück; ich suchte nach Dir auf
der Erde; ich suchte Dich im Himmel, mein Geliebter; doch schliesslich
fand ich Dich, als Perle verborgen in der Schale meines Herzens.›
Anny weinte vor Rührung, als sie diese Worte hörte, sie stammelte:
<Nathan der Weise, dies hatten wir noch im Internat behandelt, und im-
mer wieder war er in meinem Leben aufgetaucht, hier ist er nochmals!>
Und das zweite war ein Bericht in der Zeitung, der mir so viel Freude
bereitet hatte und den ich Anny mitbrachte: Der spanische König Juan
Carlos hatte alle Sepharden eingeladen, nach Spanien zurückzukehren,
wenn sie möchten; er bot ihnen die spanische Staatsbürgerschaft an, das
Ende einer Jahrhunderte alten Leidensgeschichte.
Die Sepharden sind die spanischen Juden, die mit den Mauren und
Christen so viele Jahrhunderte zusammengelebt hatten; unter der mau-
rischen Herrschaft wurde eine Gemeinschaftlichkeit der Religionen ge-
lebt.
Muslime, Juden und Christen hatten gleichermassen Zugang zu al-
len Universitäten, die Kulturen bereicherten sich gegenseitig, bis zu jener
unglückseligen Zeit, als die katholischen Könige die Alleinherrschaft des
Christentums durchsetzten. Zwangskonversion oder Galeeren war die
einzige Wahl, die Juden und Mauren blieb. So zogen es viele vor, Spa-
nien zu verlassen, und natürlich verloren sie alles, Hab und Gut, Häuser,
Ländereien, alles.
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