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Sie war wie immer sehr kritisch gegenüber sich selber und schaute
         sich all die Schwachpunkte nochmals genau an, suchte Erklärungen und
         Gründe, weshalb sie damals dies oder jenes noch nicht gesehen oder
         wahrgenommen hatte. Il faut de tout pour faire un monde! Vor allem
         Nüchternheit gegenüber sich selber! Wir berührten so viele Aspekte
         der Sufi-Lehren, und sie lösten immer wieder eine Erweiterung, eine
         Vertiefung des Verständnisses zwischen uns aus. Wir waren nicht nur
         philosophisch, sondern auch praktisch. Wir nahmen uns ein paar Nach-
         mittage Zeit, und ich schrieb all ihre Rezepte auf, Anny diktierte. Daraus
         entstanden die kleinen Rezeptbüchlein, die Anny dann zu Weihnachten
         verschenkte.

            Eines Tages bat Anny ihren Bruder, nicht am Sonntag, sondern schon
         am Samstag zum Essen zu kommen. Sie wollte den Sonntag mit mir al-
         lein teilen, sie hatte ein wichtiges Anliegen. Anny kam auf ihre Bitte und
         mein Versprechen zurück, was sein sollte, wenn sie nicht mehr wäre. Die-
         ser Sonntag war so intensiv und schön wie unser erstes Gespräch bei der
         Anstellung. Wir regelten alle Einzelheiten, legten sie fest, das Testament,
         die Zeremonie beim Begräbnis, Anny wollte alles aufgeräumt zurücklas-
         sen, so dass sie auf ihrer grossen Reise nicht zurückgehalten würde.


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            Vielen Dank, liebe Freunde, dass Ihr Eure Zeit mit uns geteilt habt.
         Bevor wir zum letzten Kapitel kommen, möchte ich versuchen, euch das
         Gefühl zu vermitteln, das mich während unserer letzten gemeinsamen
         Monate begleitete. Es war eine Stille, aus der immer wieder die kleinen,
         feinen Episoden auftauchten, die uns so viel Freude bereitet hatten.

            Äusserlich war es eine sehr spannungsreiche Zeit, ich war in einer
         beruflichen Situation, die sehr viel forderte. Eine Firma war in einem kriti-
         schen Zustand, die Finanzen nicht in Ordnung, der Chef hatte aus lauter
         Ärger über eine Computerpanne der Softwarefirma ihren geleisteten
         Service nicht bezahlt, so dass sie ihre Unterstützung einstellten; und ich
         war damit beauftragt, Ordnung in diese verfahrene Situation zu bringen.


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