Page 132 - Ebook-TragendeGrund
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dem eiNeN eNtgegeN
Dass Annys Inneres das ‘Lied der Rückkehr‘ vernommen hatte, wur-
de mir bewusst, als sie an einem unserer Sonntage unvermittelt fragte:
<Wie sieht dein Sufi aus?> Und bevor ich überhaupt richtig begriff, was
sie meinte, begann sie, ihn zu beschreiben, genau so, wie ich ihn selber in
meinem Herzen trage. Da wurde mir klar, dass Annys Seele die Verbin-
dung zur Heimkehr gesucht und gefunden hatte. Entschuldigt bitte, ich
habe keine bessere Erklärung dafür.
Etwas in mir wachte auf. Auch wenn ich äusserlich keine Möglichkeit
hatte, ihr die Fürsorge geben zu können, die ich mir eigentlich immer ge-
wünscht hätte (die Erinnerung daran tut mir heute noch weh), so war
mir klar, dass ich mir eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte. Es hat-
te sich in ihrem Inneren etwas gefügt, und ihr ‘Faden nach Oben‘, wie sie
es manchmal selber scherzhaft bezeichnete, war zu einem sicheren Seil
geworden, um bei ihrem Bild zu bleiben.
Da war keine Sorge um ihre Seele oder ihre Rückkehr, nur dass es
unwürdige Formen des Sterbens gibt, jene, die unsere Nachlässigkeit und
Unsorgfalt verursachen, und ich betete darum, dass sie von solchen Um-
ständen verschont bliebe. Bewusst gehen zu können! Sie hatte Medika-
mente verschrieben bekommen, die sie auch einnahm; doch überprüfte
Anny immer, ob sie ihre geistige und seelische Klarheit beeinträchtigten
oder nicht. Sobald sie ungute Wirkungen in sich wahrnahm, setzte sie
die Medikamente ab und lebte lieber mit ihren Schmerzen. Oswald ging
nun regelmässig einmal am Tag bei ihr vorbei, um zu schauen, ob alles in
Ordnung sei.
Dann kam der Morgen, an dem ich mit dem Gefühl einer hohen
inneren Wachsamkeit erwachte; wir wissen, bevor wir erkennen. Ich ging
zur Arbeit und spürte viel mehr im Inneren nach, was sich da tat. So ge-
gen zehn Uhr schien sich in meinem Herzen drin eine Welle zu lösen, sie
überflutete mich aus dem Inneren, und ich war mir gewiss, dass Anny
gestorben war. Ich rief bei ihr zu Hause an, keine Antwort; ich versuch-
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