Page 10 - Ebook-TragendeGrund
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Die ganze Woche blieb mir unser Gespräch im Gemüt, ich bewegte
und wendete die Eindrücke, nahm sie mit auf Spaziergänge, überleg-
te, verwarf, erkannte. Und so reifte in mir der Entscheid: Du hast nicht
genug Lebenserfahrung, weshalb können Menschen manchmal nicht
sehen, was so offenbar ist? Warum weißt du keine Lösung? Lerne! Wie?
Wo?
Und Carlo, meint Ihr? An einem meiner letzten Unterrichtsnachmit-
tage, einem Mittwoch, klopfte es an der Tür, und zu meinem Erstaunen
stand nicht Carlo da, sondern eine Frau, die scheu vor der Türe stand
und fragte: <È lei il professore di chitarra? Parla italiano? Sono la madre
di Carlo>.
Mit ihr kam wieder diese gleiche Stille der Erleichterung und Trauer
in den Raum. So seltsam! Natürlich bat ich sie herein und bot ihr Carlos
Stuhl an. Doch sie blieb stehen, druckste etwas herum und sagte dann:
<Ich bin gekommen, um Carlo für heute zu entschuldigen, er ist mit sei-
nem Vater im Lastwagen nach Belgien gefahren, wissen Sie, er ist Chauf-
feur>. Ein schneller Blick in mein Gesicht, und sie schien ob der Freude,
die ihr Bericht bei mir ausgelöst hatte, wirklich verblüfft.
Ich konnte ob der Nachricht meinerseits kaum an mir halten <Wun-
derbar, so schön, gut! Genau richtig! Herzlichen Dank, dass Sie vorbei-
gekommen sind, mir dies zu sagen!> In meiner Freude dachte ich, dass
unser Gespräch damit beendet sei. Doch sie blieb stehen, zögerte noch-
mals und setzte sich dann auf Carlos Stuhl.
<Darf ich Sie etwas fragen?> begann sie. <Natürlich, was möchten Sie
wissen?> - ich vermutete ja, worum es gehen würde. <Ich verstehe etwas
nicht, was Carlo mir heute Morgen gesagt hat, bevor sie wegfuhren. Er
sagte: Kannst du bei Hannes vorbeigehen und ihm sagen, weshalb ich
heute nicht kommen kann? Aber lüge ihn ja nicht an! Doch weshalb soll-
te ich Sie denn anlügen, es gibt ja keinen Grund dafür!> Ich verstand, was
geschehen war, ein volles Herz sagt in einem Satz so viel.
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