Page 15 - Ebook-TragendeGrund
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zu haben. Ihr Rücken war gekrümmt, und sie musste den Kopf in den
        Nacken legen, um aufschauen zu können. Doch war ihr Wesen wach,
        keineswegs behindert.

           Und es folgte das denkwürdigste Anstellungsgespräch meines Le-
        bens. Anny hatte die Unterlagen studiert und auch das Gespräch zwi-
        schen Markus und mir mitbekommen. Sie erkannte, was ich suchte. Und
        sie nahm die Gelegenheit wahr, ebenso für sich selber wie für unsere
        zukünftige Arbeit zusammen. Sie sprach ‘tacheles‘:

           <Schau, so viele Menschen, und vor allem jene, die zu uns kommen,
        haben ihr ganzes Leben lang Enttäuschungen erlebt, Brüche, Abstürze,
        Verletzungen, die sie mit sich tragen. Sie erwarten schon gar nicht mehr,
        dass jemand ihnen zuhört, sie scheinen zufrieden, wenn sie nicht offen-
        sichtlich verachtet werden, an einem solchen Ort ist für sie das Leben
        erträglicher. Hinter jedem dieser Menschen steht eine Lebensgeschichte,
        an die sie sich selber kaum mehr erinnern, zuviel ist geschehen, Alkohol,
        Medikamente, Einweisungen. Sie lernen die ‘Gassensprache‘, wissen, wie
        man sich mit den Sozialarbeitern, den Polizisten, den Vormündern be-
        nehmen sollte, sie werden ‘rusés‘ - (oh, sie schien fliessend französisch
        zu sprechen).

           Nun, du wirst sie ja alle selber kennenlernen, ich muss dir nicht mehr
        darüber erzählen, sie werden dich auch kennenlernen wollen, es wird na-
        türlich viel geschwatzt auf der Gasse. Es ist nicht so leicht, ihr Vertrauen
        zu gewinnen, da wirst du Geduld haben müssen. Und nun möchte ich
        dich bitten, genau zuzuhören, unterbrich mich nicht; wenn ich fertig bin,
        kannst du alle Fragen stellen, die dir dazu auftauchen, ok?> <Ok> sagte
        ich, etwas überrascht von der Intensität, mit der Anny gesprochen hatte.
        Sie schien aus ihrer Erinnerung alle Elemente wachzurufen, die ihr wich-
        tig schienen, und dann begann sie zu sprechen.

           <Schau, hier haben wir einen Tisch, darauf stehen Gläser, eine Mine-
        ralwasserflasche, ein Aschenbecher, Akten und Dokumente, deine Un-
        terlagen, unser Notizblock. Dies ist, symbolisch gesehen, unsere Arbeits-


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