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fläche im Jugendcafé. Der Platz ist beschränkt, die Zeit ist beschränkt, wir
         sind von vier bis elf Uhr abends für die Jugendlichen hier, nicht nur für
         die Jugendlichen, sondern für alle, die hier zur Türe hereinkommen. Wir
         heissen sie alle willkommen, es gibt für wenig Geld Suppe, Brot, Sandwi-
         ches, Kaffee, Mineralwasser, wir haben Spiele, Musikinstrumente, Bücher
         zum Lesen, bieten ihnen an, was sie vielleicht mögen.

            Wenn unsere Gäste hereinkommen, bringen sie meistens selber et-
         was mit, eine Hoffnung, eine Sorge, eine Last, einen Ärger, einen Zorn,
         Resignation, oft sind sie so voll davon, dass sie unsere Angebote nicht
         einmal sehen. Dass sie sich hier wohlfühlen können, hängt nicht nur von
         unserem äusseren Angebot ab, es gibt noch etwas, das viel wichtiger ist.
             Deshalb bitte ich dich nochmals, genau zuzuhören: Sie müssen sich
         sicher sein können, dass auf dem Tisch, den sie bei uns vorfinden möch-
         ten, nichts steht, das sie abweisen wird.  Wenn sie spüren, dass wir den
         Tisch für uns beanspruchen: ‘Wir sind so christlich, wir sind so gute So-
         zialarbeiter, wir haben so viel gelernt, dass wir jedes Problem verstehen
         können, wir, wir, wir... dann haben wir unsere Arbeit nicht getan, wir haben
         ihnen etwas vorgespielt, die Illusion einer Geborgenheit vorgeflunkert,
         und ihr Erwachen wird so bitter sein, dass sie nie mehr wiederkommen.

            Für sie da zu sein heisst, als erstes zu lernen, den Tisch von deinen
         Vorstellungen freizumachen. Und dies ist kein Zuckerschlecken, dies ist
         harte Arbeit, an dir selber, mit dir selber, und du kannst nicht wissen, wo-
         hin es dich führt, du musst vertrauen lernen, dass es dich zu Freundschaft
         führt, auch wenn du selber es dir heute nicht einmal vorstellen kannst.
         Wenn wir uns besser kennenlernen werden, kann ich dir viel mehr darü-
         ber erzählen, doch dies geht heute nicht, wir sind in einem Anstellungs-
         gespräch. Hast du verstanden, was ich dir sagen will?>

            Ich konnte kaum sprechen, ein Kloss hatte sich in meiner Kehle gebil-
         det, als ich Anny so sprechen hörte. Wie wenn jemand in mein inneres
         Zimmer geschaut und mir Anweisungen gegeben hätte,  wie ich es neu
         einrichten könnte. Mein Herz machte einen Sprung, ich kann es nicht


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