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das  erste  Mal,  dass  ich  sie  wirklich  verzweifelt  und  aufgelöst  erlebte.
         Zwei Mitglieder des Ausschusses hatten Anny daran erinnert, welches
         der ursprüngliche Zweck des Jugendcafés gewesen war und dass man
         nun fast nur die ‘chronischen Gassenkinder‘ als Gäste habe, bei denen
         kaum noch eine Chance bestünde, sie auf ‘richtige Pfade‘ zu leiten. Ob
         sie dann zumindest manchmal die Bibel hervor nehme, um ihnen etwas
         vom Evangelium mitzugeben?
            Diese Frage machte Anny einfach stumm, unfähig, überhaupt ein
         Wort zu sagen, und alle erschraken, dass sie kein Wort mehr hervor-
         brachte. Sie schien beinahe zu ersticken. Die Sitzung wurde unterbro-
         chen, und mit der Zeit dämmerte es den Mitgliedern, was sie da ange-
         sprochen hatten.

            Nachdem Anny sich wieder einigermassen erholt hatte, sagte sie nur:
         <Kommt doch bitte einmal ein paar Tage ins Jugendcafé und schaut sel-
         ber - wer sind wir denn, wer meinen wir denn zu sein? Meinen Sie, dass
         wenn ein Jugendlicher seinen eigenen Vater zehn Jahre lang nicht mehr
         gesehen hat, weil er mit seinem schwierigen Sohn aus erster Ehe nichts
         mehr zu tun haben will, einen Vormund für ihn bestellt hat; wenn der Ju-
         gendliche alle sechs Monate in der Klinik ist, weil er die Verachtung nicht
         erträgt, was soll ich ihm da von einem himmlischen Vater erzählen, wenn
         er seinen physischen Vater zuerst brauchen würde?

            Meinen Sie, wir könnten all diese Lebensgeschichten ohne das Ge-
         fühl, getragen zu werden, so aushalten? Wenn ich einkaufe, damit die
         Jugendlichen eine gute Suppe haben werden, trage ich sie im Herzen mit
         mir, stelle mir vor, wie die Karotten, der Sellerie, der Wirsing, die Bouillon
         in der Suppe ihr Gefühl des Nichtgenügens mildern könnten.

            So bitte ich im Innern um Kraft, ihnen Mut und Zuversicht geben zu
         können, nur für heute. Dann stellt sich ein warmes Gefühl ein. Und so
         spüre ich beim Suppenkochen, dass wir heute nicht allein sein werden,
         dass all die guten Gedanken und Gebete und Gefühle derjenigen, die
         das Jugendcafé tragen, uns einen Abend ermöglichen werden, der einen
         Segen in sich trägt.

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