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Jesus iN der suppe

           Langsam begann ich zu erkennen, aus welcher Dringlichkeit heraus
        Anny unser Anstellungsgespräch geführt hatte, wie viel Arbeit vor uns
        lag! Ich stand, wie Ihr jetzt beim Lesen, am Anfang dessen, was später zur
        Tiefe und Inhalt unserer gemeinsamen Arbeit wurde. Ich verstand nur
        Fragmente, war manchmal sehr überrascht von der Intensität, mit der
        Anny reagierte, wie präzis sie mit sich selber umging, mit ihren Nachläs-
        sigkeiten, mit ihrer Beschränktheit im Verstehen, wie gründlich sie rang
        mit der Wahrhaftigkeit ihres eigenen Tuns. Da konnte sie mit sich selbst
        richtig ‘affig‘ werden, einer ihrer Ausdrücke, um zu beschreiben, dass sie
        unzufrieden war, keine Geduld hatte mit ihren Unzulänglichkeiten - doch
        nie fehlte ihr die Geduld im Umgang mit den Schwierigen, den Sprachlo-
        sen, den Wütenden, den Resignierten.

           Und in einem war sie eine wirkliche Meisterin: Sie konnte sich selber
        auf den Prüfstand ihrer Ideale stellen, genau, präzis und im besten Sinne
        radikal, ihre Unzulänglichkeiten bei der Wurzel anzupacken. Wie und un-
        ter welchen Umständen sie im Verlaufe ihres Lebens diese Kunst gelernt
        hatte, war der Segen und die Entdeckung unserer Zeit zusammen. Ihrer-
        seits schien sie sich sehr zu freuen, dass wir ‘uns gefunden hatten‘, wie sie
        es bald bezeichnete - und der Grund dafür begann sich nun langsam zu
        enthüllen.
           Wir waren in einer christlichen Institution angestellt, und Anny war
        Mitglied des Leitenden Ausschusses, der sich um viele Aspekte der Ge-
        samtarbeit kümmern musste; auf der einen Seite war es natürlich gut,
        dass Anny Einsitz hatte und mitreden konnte. Sie ertrug es jedoch nur
        schlecht, dass die andern im Leitenden Ausschuss zwar schätzten, dass
        Anny auf ihre Themen eingehen konnte, mit der gleichen Tiefe und In-
        tensität wie mit allen Dingen, die sie tat.

           Doch dann, wenn es um die Themen unserer Arbeit ging, bekamen
        die Mitglieder bald glasige Augen und sagten: <Sind wir froh, liebe Anny,
        dass du so mit Herz und Seele bei deiner Arbeit bist, du bist wie eine


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