Page 22 - Ebook-TragendeGrund
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habe. Wie‘s mir geht? Nun, ich war ein paar Monate in den Ferien, wie
Du ja weißt, und nun bin ich wieder zurück, suche eine Wohnung und
weiss noch nicht, wie ich mit dem Vormund all die Dinge besprechen soll,
die nun anstehen. Hättest du nicht etwas Zeit für eine Besprechung?>
Anny stand sofort auf und verschwand mit ihm für zwei Stunden im Be-
sprechungszimmer.
Die Atmosphäre im Raum war wie gereinigt, ich war völlig verblüfft
und fasziniert. Das war eine Ebene der Arbeit, die mir einfach ein Rätsel
war. Ich war tief beeindruckt, und Anny schien es beim Abendessen zu
bemerken. Sie sagte nur: <Wir kennen uns schon seit bald zehn Jahren,
und er ist ein guter Kerl, einer von den vielen, die das Jugendcafé nur ab
und zu besuchen; meistens dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals
steht — aber gut ist, dass sie dann wirklich kommen>.
Dank ihrem Beispiel begann sich langsam meine Betrachtungsweise
zu ändern. Eine Art ‘Sensor‘ entwickelte sich, eine Fähigkeit, Menschen
nicht aufgrund der offensichtlichen Eindrücke zu sehen, sondern dahin-
ter zu spüren, weshalb sie herkamen, was sie bewegte, ohne dass sie sel-
ber darüber sprechen würden. Ich verstand ihre Sprache langsam besser,
ich lernte, Dinge in einer Weise anzusprechen, dass es nicht entblössend
oder verletzend war.
In mir war etwas in Bewegung gekommen, es äusserte sich in vielen
Träumen; auch die Gespräche, die wir jeweils beim Nachtessen führten,
machten mich mit der Aufgabe vertrauter. Ein neues Gefühl war da, wie
wenn uns ein Mantel beschützen würde, er schien das Jugendcafé zu
umgeben.
Bis zum Abend, als ich den Eindruck hatte, dass sich Anny in einer Si-
tuation völlig unverständlich verhalten habe. Sie liess etwas offensichtlich
Unrechtes einfach geschehen (ich weiss nicht mehr im Detail, was es war,
nur hatte ich das Gefühl, dass sie ein wichtiges Prinzip unserer Vereinba-
rung missachtet hatte).
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