Page 24 - Ebook-TragendeGrund
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Das Taxi war da, um sie nach Hause zu bringen. Und ich ging zu Fuss,
es war ein besonderes Erlebnis, um halb vier morgens nach Hause zu
gehen nach einem solchen Abend. Von unserem langen Gespräch blieb
mir vor allem ein Bild in Erinnerung, das Anny gebraucht hatte, um ihren
Standpunkt zu beschreiben. Sie sagte: <Schau, jeder Mensch hat seine
Kleider, und auch das, was er von sich selber denkt, ist eine Art Hemd,
das er sich anzieht. Von aussen können wir vielleicht sehr leicht erkennen,
dass es löchrig ist, verdreckt, zu eng, unpassend vielleicht; und doch ist
es das Hemd dieses Menschen. Und niemand hat das Recht, ihm dies
wegzunehmen.
Und wenn wir zweihundert Masshemden in unserem Schrank ha-
ben, für jeden ‘Sozialfall‘, für jeden ‘Randständigen‘, wir verletzen die
Würde jedes einzelnen, wenn wir ihn zwingen wollen, sein eigenes
Hemd vor uns auszuziehen. Niemand steht gerne nackt und ausgestellt
da. Woher soll ich wissen, wie mein eigenes Hemd für andere aussieht?
Ich selber finde es für mich passend, und andere werden es aus ihrer
Warte beurteilen.
Nun, die einen denken so, die anderen anders. Wenn wir nun diese
Arbeit tun, zu der uns die Jugendlichen auf der Gasse geholt haben, so
können wir ihnen nicht vorschreiben wollen, welches Hemd sie tragen
müssten. Was wir tun können ist hinzuhören, wie sie es selber beurteilen,
wie sie es betrachten, ob sie bereit wären, ein Loch darin zu flicken, es zu
waschen; dabei können wir Stütze sein, Ermutigung, wenn sie uns nach
unserer Beurteilung, unserer Meinung fragen.
Dann gibt es auch die vielen Gäste, die kommen und sich in ihrem
ganzen Leben solche Überlegungen noch gar nie gemacht haben, aus
welchen Gründen auch immer. Wir können, je mehr Erfahrung wir
haben und unseren Tisch gut polieren, diese Hemden sehen, und wir
können uns wohl vorstellen, dass ihnen ein anderes gut anstehen könn-
te - und so können wir vielleicht in unserem Inneren für sie ein neues
Hemd schneidern, aus all den Erlebnissen mit ihnen; eine Vorstellung
entwickeln, was auch sein könnte. Es ist ein grosser Segen zu erleben,
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