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Wie hatte sich dies geformt, was hatte sie erlebt? Ich hatte den Ein-
         druck, dass ein Mensch in einem Leben kaum so viele Erfahrungen ge-
         macht haben konnte, wie dies für Anny selbstverständlich schien. Die
         Jugendlichen auf der Gasse hatten vor allem Vertrauen zu ihr, weil sie all
         die Dinge, die die Jungen beschäftigen, selber erlebt haben musste, wie
         es schien. Und doch waren da keine Verletzungen sichtbar, wie man sie
         bei so vielen Menschen erkennt, die Quelle schien unablässig frisch zu
         sprudeln.

            Manchmal kam ein junges Mädchen erst kurz vor elf herein und ging
         geradewegs zu Anny hin - sie begrüssten sich jeweils sehr herzlich. Ge-
         meinsam fuhren sie dann weg, Anny brauchte jeweils einen Taxi um nach
         Hause zu kommen, sie konnte wegen ihrem krummen Rücken kaum
         mehr hundert Meter gehen.

            Da unsere Vertrautheit langsam aber sicher wuchs, erzählte sie mir
         bald, dass ihre Arbeit jeweils nicht aufhörte, wenn sich die Türe des Cafés
         schloss —viele kamen zu ihr nach Hause, verzweifelt, um die Nacht nicht
         allein verbringen zu müssen, und sie liess die Jugendlichen manchmal in
         einem Nebenzimmer übernachten — doch war die Zeit zum Schlafen
         jeweils sehr kurz, oft verbrachten sie den grössten Teil der Nacht mit Ge-
         sprächen.

            Anny hatte schon zehn Jahre im Jugendcafé gearbeitet, als wir uns
         trafen. Sie war seit dem Anfang dabei, und bald erzählte sie mir von
         der Geschichte dieser Anfänge, so dass ich mir ein Bild machen konn-
         te, weshalb das Jugendcafé geworden war, was es war. Und je offener
         unser Austausch wurde, desto lebendiger schien unsere gemeinsame
         Arbeit zu werden; die Jugendlichen spürten, dass bei Anny ein Druck zu
         schwinden begann, und dass die Atmosphäre im Raum immer einladen-
         der wurde.

            Es war ein königliches Gefühl, (wenn ich es beschreiben wollte), die
         Arbeit an einem solchen Ort, wo sich nur Bettler und Menschen aufhiel-
         ten, die zu kurz gekommen schienen, und doch war da keine Armut, ein-
         fach Leben in all seinen Schattierungen, Nationalitäten, Schicksale, Leben.


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