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innerung geblieben sind. Vielleicht würde Anny, wenn sie meinen Bericht
         läse, kommentieren:  <Il faut de tout pour faire un monde>…

            Anny hatte sich einen Ort in der französischen Schweiz ausgesucht,
         um den ersten Atem ihres irdischen Lebens aufzunehmen.  Der Bürger-
         meister des Ortes hatte sich mit einer schönen Frau einer vorbeiziehen-
         den Zigeunersippe auf eine Romanze eingelassen, und Anny tat ihren
         ersten Atemzug voller Leben, natürlicherweise ahnungslos; unschuldig,
         voller Begierde, zu trinken, zu leben, zu erfahren, Produkt dieser Roman-
         ze, die schon bald in die Tragik mündete, die wir uns leicht vorstellen kön-
         nen.

            Es war eine katholische Umgebung im Jahre 1921 mit der Brisanz
         der Geisteshaltungen jener Zeit - die Pro Juventute war 1912 gegründet
         worden, und Bundesrat Giuseppe Motta rief 1926 das Hilfswerk ‘Kinder
         der Landstrasse‘ ins Leben, um einer Plage Herr zu werden, wie es da-
         mals empfunden wurde.

            Anny erfuhr mit sechzehn Jahren das erste Mal, welche Elemente
         ihre Kindheit und Jugend geprägt hatten; ihre Mutter hatte kurz nach
         der Geburt Selbstmord verübt; die Sippe wollte Anny nicht mitnehmen,
         sie wollten kein weiteres Unglück in ihrem Clan heraufbeschwören, ihr
         Leben war ja hart genug. Und so wollte es das Schicksal, dass Anny zur
         Adoption freigegeben wurde in diesem Ort.

            Viele munkelten, wie wir uns das leicht vorstellen können, doch der
         Bürgermeister schritt zur Tat und überredete seine Frau, das verstossene
         Zigeunerkind zu adoptieren; um die Kirche im Dorf zu lassen, wurde nie
         genauer geklärt, wessen Kind es war, die Mutter war tot, und weshalb
         dann noch nachforschen?

            So wuchs Anny mit ihren eigenen Halbgeschwistern auf, ohne je zu
         wissen, dass es wirklich ihre Geschwister waren. Sie wuchs als Waisenkind
         in der eigenen Familie auf, und mit jedem Bissen Essen entwickelt sich
         nicht nur ihr Körper und ihr Wesen, sondern auch das tiefstmögliche


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