Page 60 - Ebook-TragendeGrund
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war, und es ihr nicht so besonders gut ging wegen der Osteoporose. Als
sie dann meinen zweifelnden Blick sah, lachte sie und erklärte: <Zu Hause
bei mir, natürlich!>.
Einer unserer Gäste war jedes Jahr ein– oder zweimal in der Klinik,
und oft gab es Zwischenfälle, die Anny viel zu schaffen machten: Der
Arzt der Akutstation nahm ihn auf und gab ihm Medikamente. Nach ein
paar Tagen der Erregtheit wurde unser Gast in eine andere Abteilung
verlegt. Da verspürte er die Folgen einer völlig anderen Vorstellung über
die Wirkung von Medikamenten an seinem eigenen Leib - mit Krämp-
fen und lebensbedrohlichen Ängsten, die er überhaupt nicht mit seinem
seelischen Zustand in Verbindung bringen konnte. Weshalb? Der Arzt
hatte sich nicht darum gekümmert zu wissen, was sein Kollege in der
Akutabteilung getan hatte. Und da war ein Gespräch mit dem Klinikdi-
rektor höchste Priorität.
Obwohl Anny an dieser Gedankenlosigkeit des institutionellen
Gesundheitsapparates oft tief mitlitt, wurde sie nie mutlos deswegen,
sondern zitierte in Gedanken den Klinikdirektor in ihre Dachmansarde
und hielt ihm eine Standpauke, die er nicht vergessen würde, lachte sie
manchmal.
Doch wollte sie auch freundschaftlich mit ihm sein, so waren diese
Standpauken in der Dachmansarde nicht einfach Monologe, sondern sie
konnte sich ebenso gut den Klinikdirektor vorstellen, wie er seine Gegen-
argumente vortrug, <und daraus ergab sich manchmal ein so konstruk-
tiver Dialog, wie ich ihn dem Direktor nie zugetraut hatte> sagte Anny
dann zu meiner Verblüffung, Überraschung und offene Bewunderung
dafür, wie sie Schwierigkeiten nicht unterkriegen konnten.
Was dann völlig zweitrangig zu werden schien war die Tatsache, dass
nach einer Nacht Standpauke Anny zwar erkannte, zu welch kreativen
Dialogen der Direktor fähig war, dies jedoch an dem physisch existenten
Klinikdirektor völlig vorbeiging, weil er eine ganze Nacht der Vertiefung
im Dienste der Patienten verschlafen hatte. Nun, das schien auch gar
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