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BeWeguNg im herzeN uNd Neue NameN

           Die ‘Regel der drei Tage‘, die Anny sehr wichtig war, beruhte auf dem
        Wissen, dass unsere Entscheidungen sehr davon abhängen, wie unse-
        re Gefühle sie färben. Was am Anfang völlig einfach dasteht, sieht am
        nächsten Tage manchmal so fremd aus, dass wir uns fragen: ‘Weshalb
        schien es mir gestern so einleuchtend, und heute nicht mehr?‘

           Um Entscheidungen so ‘ungefärbt‘ wie möglich treffen zu können,
        hatte es sich Anny zur Angewohnheit gemacht, einen Zeitraum von drei
        Tagen verstreichen zu lassen, um die möglichen Folgen ‘ins Gespür zu
        bekommen‘, so würde ich es beschreiben - Anny verwendete dafür ein
        Wort, das mir zu jener Zeit noch keinen Sinn machte: <Ich bewege es in
        meinem Herzen>, und ich wunderte mich, ob dies eine Art ‘Rühren in
        der Suppe‘ sein könnte, die mir unbekannt war.

           So war das ‘Rezept‘: Am ersten Tag schaute sich Anny all die positiven
        Aspekte der bevorstehenden Entscheidungen an, listete sie auf, wog sie
        ab und liess sich von keinem inneren Zweifel davon abbringen, nur die
        positiven Seiten zu betrachten. Dann ging sie schlafen und legte diese
        Eindrücke ‘zur Ruhe‘.

           Am nächsten Tag ging sie genauso mit den negativen Aspekten um,
        sie listete sie auf, wog sie ab und blieb ganz im Eindruck der Auswirkun-
        gen  des  möglichen  Negativen  -  eine  Sichtweise,  die  Mut  und  Willen
        braucht. Auch diese wurden einen ganzen Tag lang bewegt, dann ging
        sie wiederum schlafen. Und am Morgen des dritten Tages hatten sich die
        Kriterien so deutlich herauskristallisiert, dass die Entscheidung dann sehr
        klar und ‘reif‘ war.

           Anny hatte eine ganz besondere Begabung, sie konnte sich Dialo-
        ge mit Menschen, Freunden und Gegnern ihrer Anliegen sehr lebhaft
        vorstellen, manchmal verblüffte sie mich mit einem kleinen Satz wie:
        <Gestern hatte ich ein langes Zwiegespräch mit dem Direktor der Klinik
        Rheinau>, obwohl ich wusste, dass sie mit dem Taxi nach Hause gefahren


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