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wie ein Lauffeuer durch die  Altstadt, es hatte sich etwas bewegt, und
        unter den Jugendlichen entstand das Gefühl: <Anny gehört zu uns.>

          Doch mit jeder Hoffnung kamen auch schnell die Befürchtungen,
        dass es bei schönen Worten bleibe, und dass man deswegen Anny nicht
        einfach so trauen soll. Und Anny war die erste, die dies zu verstehen
        schien. Sie kam ins Dilemma, was war nun wichtiger? Sie liebte ihre Ar-
        beit in der Küche sehr, doch die Jugendlichen begannen mehr und mehr
        zu fordern, dass sie nun <richtige Arbeit mit uns> machen solle.

          Eine Zeit der ‘beweglichen Aufgaben‘ begann, die vier Mitarbeiter
        und Mitarbeiterinnen waren nur zum Teil bereit, in der Küche mit zu ar-
        beiten. Die Jugendlichen begannen nun, Sinnvolles zu fordern, ausgebil-
        dete Sozialarbeiter sollten ihre Küchentauglichkeit unter Beweis stellen!
        Nicht allen gelang es.

          Das Leben auf der Gasse ist ein ‘Nischenleben‘, wie wir heute viel-
        leicht sagen würden, man entwickelt ein Wissen, das sich von dem der
        ‘normalen Bürger‘ unterscheidet. Man spürt, wo man erwünscht ist und
        wo nicht, man lernt, ‘rusé‘ zu sein, wie es Anny beschrieb, zu wissen, wie
        man Unangenehmes vermeidet, im Umgang mit der Polizei, mit den Be-
        hörden, mit den Dealern, mit den Kriminellen, die einen als Komplizen
        missbrauchen, mit den Möglichkeiten, Druck zu vermeiden und zu dem
        zu kommen, was man denkt zu brauchen. Und das alles mit kaum etwas
        Geld in der Tasche.

          Und doch gibt es im Gassenleben immer wieder diese Einbrüche,
        nach denen nichts so ist wie zuvor. Der eine wird verurteilt und ver-
        schwindet für Monate im Gefängnis, ein anderer stirbt wegen der Dro-
        gen, dem nächsten droht die Verwahrung auf Lebzeit; und an einem
        gewissen Tag wissen dann plötzlich alle, dass nun jener wirklich ernst ge-
        macht hat mit dem, was er schon seit Jahren allen erzählte…

          Viele Mitarbeiter kamen und gingen. Die Trägerschaft versuchte, die
        Fluktuationen mit verschiedenen Methoden ‘in den Griff‘ zu bekom-


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