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zu Beginn formuliert waren, nun darauf zu überprüfen, ob sie für die Ju-
         gendlichen auch wirklich Sinn machten.

            Auf einer symbolischen Ebene bat Anny natürlich die ‘Etablierten‘,
         sich vorzustellen und mitzufühlen, was es bedeutet, selber so ein zerris-
         senes, verdrecktes Hemd tragen zu müssen und nur dieses eine zu ha-
         ben, nicht einen Schrank voll für jede Gelegenheit. Sie fühlte sich ebenso
         verantwortlich in der Welt der ‘Etablierten‘ wie in der Welt der Gasse,
         Brücken des Verständnisses zu bauen - und dafür musste sie zumindest
         ‘bilingue‘ sein, eine Sprache mit den ‘Etablierten‘ und eine mit den Gas-
         senjungen.

            Anny versuchte der Trägerschaft verständlich zu machen, dass die
         Worte der ‘etablierten Bibel‘ - und es war ja eine christliche, ‘etablierte‘
         Institution, in der wir uns bewegten und zu arbeiten versuchten -  wie-
         der neu und lebendig werden müssten, in einer Sprache, die nicht schon
         durch  zwanzig  revidierte  Übersetzungen  und  zweihundert  Gremien
         gegangen war, die über Authentizität geurteilt hatten. Auf diesem Feld
         hatte sie schon viele Schlachten geschlagen, ganz offensichtlich, ich hatte
         den Eindruck, dass ich erst wenig von dem erkannt hatte, wo und wie sie
         ihre feine Florettkunst der Herzenssprache erlernt hatte.

            Den Jugendlichen beschrieb sie den Rahmen, in dem das Jugend-
         café wirken konnte; es war ein bescheidener Rahmen, doch trotzdem
         ein Raum, in dem Sinnvolles möglich war. Das Jugendcafé war an jenem
         Abend rammelvoll, wie Anny mit leuchtenden Augen über die Pionier-
         zeit sprach. Sie lud die Jugendlichen ein, selber mitzutragen, mit zu for-
         mulieren, was sie brauchten; und da standen viele schon vor einer Situa-
         tion, die ihnen völlig neu war.


            Sie waren beeindruckt, dass da ein Mensch vor den ‘hohen Auto-
         ritäten‘ stand, (es war das erste Mal, dass jene das Jugendcafé betraten,
         an dem die Benutzer auch da waren - die Eröffnungsfeier hatte in einem
         anderen Rahmen stattgefunden) und sie bat, das Leben aus der Sicht der
         Gassenkinder zu betrachten und mitzufühlen.  Und natürlich ging dies


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