Page 49 - Ebook-TragendeGrund
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te ich lieber und erfand mir Geschichten, wie die Bäume miteinander
sprechen, mit den Vögeln, die in ihren Ästen wohnten, sie mussten sich
ja gegenseitig irgendwie erzählen, weshalb sie so zusammen leben und
wirken wollten.
Meine Tage waren voller solcher Dialoge, die Ameise musste verste-
hen, wie sie ihre Aufgabe erfüllen könne. Ich wollte immer singen, die
Vögel sangen ja auch - aber etwas schien mich daran zu hindern, einen
Ton so hervorzubringen, wie ich es gerne möchte, es tönte immer an-
ders.
Und als ich in die Schule kam, durfte ich nie mitsingen, wenn wir zu-
sammen ein Lied anstimmen sollten - <Tous, sans Anny> sagte der Lehrer
jeweils, weil er mir so deutlich gesagt hatte, dass ich die Harmonie des
Chores stören würde, ‘aphone‘ hiess das Wort. Und ich fühlte mich so
elend, dass ich zu Hause kaum noch etwas sagte.
Meine Nurse in Strassburg jedoch war ein Segen für mich. Mit ihr
konnte ich über alles reden, auch darüber, wie gerne ich gesungen hätte!
Sie ermunterte mich, es eben doch zu probieren, nur hier zu Hause, und
so begann ich wieder, einige Lieder zu singen, die mir gefielen: <Non, rien
de rien, non, je ne regrette rien…> war mein liebstes Lied. Wenn es dann
etwas krächzte und ich den Ton nicht fand, so lachte meine Nurse nur
und sagte: <Nun, dies ist dein Ton, weshalb sollte er anders sein als so, wie
er aus dir hervorkommt?>
Unser Gespräch hatte unverhofft eine Wende genommen, die wir
beide so nicht gesucht hatten. <Ja, das Weizenkorn, weshalb sollte das
Weizenkorn sich etwas vorstellen, das jenseits seines eigenen Lebens
liegt? Weshalb sollte es eine Entwicklung bejahen, die daraufhin zielt,
dass es zu Mehl wird und Nahrung für jemand, den es gar nicht kennt,
gar nicht kennen kann? Weshalb sollte sich ein Weizenkorn Mühlsteine
vorstellen können, so gross und so mächtig, dass es weiss, am Ende kom-
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