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te ich lieber und erfand mir Geschichten, wie die Bäume miteinander
         sprechen, mit den Vögeln, die in ihren Ästen wohnten, sie mussten sich
         ja gegenseitig irgendwie erzählen, weshalb sie so zusammen leben und
         wirken wollten.

            Meine Tage waren voller solcher Dialoge, die Ameise musste verste-
         hen, wie sie ihre Aufgabe erfüllen könne. Ich wollte immer singen, die
         Vögel sangen ja auch - aber etwas schien mich daran zu hindern, einen
         Ton so hervorzubringen, wie ich es gerne möchte, es tönte immer an-
         ders.

            Und als ich in die Schule kam, durfte ich nie mitsingen, wenn wir zu-
         sammen ein Lied anstimmen sollten - <Tous, sans Anny> sagte der Lehrer
         jeweils, weil er mir so deutlich gesagt hatte, dass ich die Harmonie des
         Chores stören würde, ‘aphone‘ hiess das Wort. Und ich fühlte mich so
         elend, dass ich zu Hause kaum noch etwas sagte.

            Meine Nurse in Strassburg jedoch war ein Segen für mich. Mit ihr
         konnte ich über alles reden, auch darüber, wie gerne ich gesungen hätte!
         Sie ermunterte mich, es eben doch zu probieren, nur hier zu Hause, und
         so begann ich wieder, einige Lieder zu singen, die mir gefielen: <Non, rien
         de rien, non, je ne regrette rien…> war mein liebstes Lied. Wenn es dann
         etwas krächzte und ich den Ton nicht fand, so lachte meine Nurse nur
         und sagte: <Nun, dies ist dein Ton, weshalb sollte er anders sein als so, wie
         er aus dir hervorkommt?>


                                      
            Unser Gespräch hatte unverhofft eine Wende genommen, die wir
         beide so nicht gesucht hatten. <Ja, das Weizenkorn, weshalb sollte das
         Weizenkorn  sich  etwas  vorstellen,  das  jenseits  seines  eigenen  Lebens
         liegt? Weshalb sollte es eine Entwicklung bejahen, die daraufhin zielt,
         dass es zu Mehl wird und Nahrung für jemand, den es gar nicht kennt,
         gar nicht kennen kann? Weshalb sollte sich ein Weizenkorn Mühlsteine
         vorstellen können, so gross und so mächtig, dass es weiss, am Ende kom-


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