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Du sprichst diesmal nicht Berlinerisch, sondern chinesisch!> Und dieses
Wort löste bei mir einen ‘Gefühlssprung‘ aus, ich kann es nicht anders
beschreiben. Plötzlich war ein Traum wieder da, ich hatte ihn fünf Jahre
zuvor in Spanien geträumt, und er war mir immer wieder ein spannen-
des Rätsel.
Ich wanderte in jenem Traum durch ein Tal, das mir unbekannt war,
doch eine Vorfreude begleitete mich beim Gehen. Es ging lange und
stetig bergan, doch da war keine Müdigkeit oder Langeweile, mit jedem
Schritt schien sich die Freude zu erweitern, dass eine Begegnung bevor-
stand. Dann stand ich im Traum wirklich vor einem chinesischen Weisen,
mit weissem, nach unten hängendem feinem Schnurrbart; er schaute
mich an, wusste offenbar, weshalb ich hergekommen war. Ich versuchte
mit ihm zu sprechen; doch zu meiner Beschämung erkannte ich, dass es
mir nicht gelang, ich konnte kein chinesisch! So stand ich etwas beläm-
mert vor ihm und musste einfach warten.
Nach einiger Zeit tauchte meine Schwester auf, ich wusste, meine
Familie hatte sich auch aufgemacht, doch war ich allein vorausgegangen.
Als die Schwester den Weisen erreichte, konnte sie sich ohne Schwie-
rigkeiten mit ihm unterhalten, zu meiner grossen Verblüffung. Meine
Schwester konnte chinesisch! Dabei war ich doch der Fremdsprachen-
spezialist der Familie!
Es brauchte etwas Zeit, bis ich Anny wieder zuhören konnte, sie hatte
meine Geistesabwesenheit bemerkt und einfach den Braten vorbereitet.
<Ah, bist du wieder da?> bemerkte sie dann. <Oh ja, entschuldige bitte,
es ist mir gerade etwas in den Sinn gekommen, das schon ziemlich weit
zurückliegt… Was meintest du mit dem Weizenkorn?>
<Wie wäre eine Entwicklung möglich, wenn das Weizenkorn vor
den Mühlsteinen davonrennen wollte?> stellte Anny eine Frage, und ich
wusste nicht, ob sie es als ‘Lehrerfrage‘ meinte, oder wie wohl? Anny
lachte und sagte: <Ich war zwar ziemlich gut in der Schule, aber ich dach-
te immer, weshalb lernen wir nicht direkt in der Natur? Und so träum-
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