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me ich da nur zermalmt heraus, und nichts wird an meine ursprüngliche
        Form erinnern ausser ein paar Blatthüllen, die als Spreu weggeblasen
        werden?>

          <Ich bin auf dem Land aufgewachsen>, sagte Anny, <und es gab für
        mich nichts Schöneres, als durch die Felder zu gehen und mir all dieses
        Leben vorzustellen, wie es spricht, singt, im Zwiegespräch mit den Ster-
        nen, dem Unendlichen; wie es gemeinsam Sinn sucht, wie es erkennt,
        dass die Zeit vorangeht und vieles nicht so sein wird, wie es am Anfang
        scheint.

          Solche Überlegungen standen schon immer im Zentrum meines Le-
        bens. Und so begann ich mir vorzustellen, dass je reifer ein Weizenkorn
        wird, es sich irgendwie doch vorstellen können muss, weshalb es so reif
        wurde; und wenn es Mühlsteine sieht, wird es sich nur mit grosser Weis-
        heit vorstellen können, dass ausgerechnet diese ermöglichen werden,
        dass die Essenz von ihm selbst Nahrung werden kann für jemand, für
        etwas.

          Bilder  tauchen  in  meinem  Inneren  auf,  wenn  ich  im  Jugendcafé
        arbeite, solche Bilder bringen mich dazu, den Sinn eines scheinbar ver-
        pfuschten Lebens herausspüren zu wollen, und zum Glück hat sich diese
        kindliche Sichtweise lebendig erhalten, sie ist immer wieder da, neu und
        für mich selber überraschend…> Die Dunkelheit hatte sich wieder über
        die Dächer gelegt, und wir hatten eigentlich nicht sehr lange gesprochen,
        lange geschwiegen und im Innern unseren Gefühlen nachgespürt…

          Anny war als Köchin angestellt und wollte dies auch bleiben; sie hatte
        sich ja nie zuvor mit Sozialarbeit befasst und auch keine Ausbildung da-
        rin; doch sie wollte lernen, nicht für sich, sondern für die Jugendlichen,
        was sie brauchten, sie wollte die Arbeit aus der Sichtweise der Gassen-
        kinder verstehen lernen, und die Jungen nahmen wahr, dass da in der
        Küche des Jugendcafés ein Mensch arbeitete, der ‘drauskam‘, wie sie es
        bezeichneten. Als die Gäste vernahmen, dass ich nun auch über die An-
        fänge des Jugendcafés Bescheid wusste, so begannen sie mir viele Sze-


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