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men, mit freiwilligen Helfern. Sie alle suchten sich irgendwie zu schützen
        vor all den Eindrücken, bei denen man nicht unbeteiligt bleiben konnte.
        Doch blieb es für Anny mehr eine Last als eine Hilfe, sie versuchte jeweils,
        sich mit etwas Sarkasmus über die Runden zu retten: <Die meisten wa-
        ren eher frei als willig.>

           Es ist keineswegs eine einfache Arbeit, auf der einen Seite sind Men-
        schen angestellt, Mitgefühl zu haben mit jemandem, der oft mit dem
        Rücken zur Wand zu stehen scheint, ohne innere und äussere Mittel,
        irgendetwas in seinem Leben schaffen, formen zu können. Und diese
        gleichen  Menschen  haben  neben  ihrer  Engagement  noch  ein  Leben,
        grundlegend anders als die Menschen auf der Gasse; finanzielle Sicher-
        heit, Freizeit und Möglichkeiten, sich all die Dinge erlauben zu können,
        die zu einem ‘normalen Leben‘ gehören.

           Ein Mensch auf der Gasse kennt oft nur eines, sein Leben, wie es
        ist; er könnte sich nicht einmal vorstellen, dass es andere Möglichkeiten
        gibt - und wenn er einmal solche Versuche unternimmt, werden ihm
        die Grenzen schnell aufgezeigt, Winter oder Sommer. Viele meiden die
        ‘Festtage‘, wenn es irgendwie geht; meistens waren unsere Gäste am
        Verletzlichsten, wenn die ganze Stadt ein Sommernachtsfest feierte.

           So wurde das Jugendcafé vor allem auch ein Ort, wo manchmal
        ganz unverhofft ein Gefühl von Festlichkeit entstand, weil einer der Gäs-
        te es nach einem Absturz geschafft hatte, wieder drei Monate trocken
        zu bleiben - und ein solcher aus freien Stücken erlangter Sieg über die
        eigenen Unvollkommenheiten brachte oft einen Segen für alle, die es
        miterleben durften. Wenn so etwas geschah, war das Gefühl des Ausge-
        schlossenseins mit einem Windstoss weggeblasen. ‘Wieder aufstehen‘
        war die Quelle der Freude.

           Jedes  Mal,  wenn  ein  Mitarbeiter  ging,  trug  Anny  mehr  auf  ihren
        Schultern, sie murrte jedoch nie, wurde zwar manchmal ‘affig‘, nahm
        dann aber die Einarbeitung eines neuen Teammitgliedes ebenso ernst
        wie alle Dinge, die sie anging, auch wenn sie oft spürte, dass die Geduld


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