Page 56 - Ebook-TragendeGrund
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und Ausdauer nur bis dahin reichte, wo das ‘Tischaufräumen‘ wirklich
erst begänne.
Natürlich hatte Anny ebenso ihr Leben, das sie auch sehr zu geniessen
schien; ich hatte sie kennengelernt, als ihre Bewegungsfreiheit durch die
Osteoporose schon sehr eingeschränkt war. Sie erzählte jedoch viel aus
jener Zeit, als es das ‘Central‘ noch gab, das ‘Terrasse‘ oder das ‘Odeon‘.
Da traf man sich, zum guten Nachtessen und geselligem Zusammensein,
Freundschaften wurden gepflegt.
Anny hatte während ihrer Zeit als Schneiderin für Modegeschäfte ei-
nen grossen Bekanntenkreis. Sie erzählte von Festen, wie sie Jean Gabin
kennengelernt hatte, welche Berühmtheiten aus dem Schauspielhaus
oder der Oper jeweils am Nebentisch beim Nachtessen sassen, und wie
sich dann oft gemeinsame Feste daraus ergaben. Sie war sicher kein Kind
von Traurigkeit, und ihre Erzählungen gaben den Jugendlichen oft das
Gefühl, selber an einem Leben teilhaben zu können, das ihnen persön-
lich verwehrt war.
Die Jugendlichen hatten Anny oft in der Stadt angetroffen, und jedes
Mal war sie ebenso herzlich und offen ihnen gegenüber, wie sie dies in ih-
rer Arbeit war. Und doch schien sie wie selbstverständlich auch an Orten
zu verkehren, wohin sich die Gassenkinder nie getraut hätten…
Eines Nachmittags kam eine ganze Gruppe von ihnen zu Anny und
fragten sie: <Du hast ja deine Freunde. Wir haben dich schon oft im Cen-
tral gesehen, beim Nachtessen mit ihnen. Wie ist es mit uns? Würdest du
uns auch einmal einladen?>
Es ging ja nur äusserlich um ein Nachtessen, die Jungen wussten dies
ebenso wie Anny. Sie sei sehr überrascht und gerührt gewesen, erzählte
mir Anny an einem unserer Abende. <Bist du bereit, uns auch teilhaben
zu lassen an deinem Leben?> so hiess die Bitte eigentlich. Sie gab den
Jungen zur Antwort: <Was meint Ihr wohl? Ich werde euch an einem der
nächsten Tage Bescheid geben.>
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