Page 57 - Ebook-TragendeGrund
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Anny wandte ihre ‘Regel der drei Tage‘ an, dann stand ihr Entschluss
fest, und so kam es dann auch. Zuerst ging sie zum Kellner im ‘Central‘
und bat ihn, den besten Tisch für ihre besonderen Gäste zu reservieren.
Es brauchte kaum Worte, sie kannten sich gut, und der Kellner verstand
sein Metier als Gastgeber auf wunderbare Weise. Als die Jugendlichen
ihrer Einladung folgten, begleitete ein Gefühl der besonderen Würde
das Abendessen, und auch jene, die sonst schnell die Nase rümpften,
schienen zu erkennen, worum es ging.
Das Vertrauen wuchs, und das Gefühl der Jugendlichen, ausge-
schlossen zu sein, schwand wie Nebel an der Sonne, zumindest für die-
sen Abend. So entstand langsam dieser ruhige Rhythmus des Vertrauens
im Jugendcafé, der mich seit dem ersten Tag so beeindruckt hatte. Es
war für mich ein grosses Geschenk, diesen Beginn in Annys Beispiel und
Erzählungen erleben zu können.
Viele Jahre später, als Anny und ich nicht mehr im Jugendcafé arbei-
teten, doch unsere gemeinsamen Sonntagabende bei Braten und Kar-
toffelstock weiterführten, begann sie, ihre Rezepte jeweils zu beschrei-
ben, wir genossen den Abend gleich zweimal, zuerst bei der Beschrei-
bung, und dann nochmals beim Essen. Wir stellten sie zusammen und
schenkten sie Freunden. Gestern Nacht war ich punkt drei Uhr hellwach,
etwas aus dem Inneren schien mich geweckt zu haben; wenn dies ge-
schieht, meldet sich sicher etwas aus dem Lagerhaus der Erinnerungen;
diesmal waren es die Rezeptbüchlein, die zehn Jahre in der Schublade
gelegen hatten. Hier ist eine Kostprobe daraus:
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