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Gefühl, das ein Kind erleben kann: <Da fühlt sich etwas nicht richtig an,
         liegt es an mir?>

            Jeder Impuls, der aus ihrem tiefsten Inneren kam, traf auf dieses Ge-
         fühl, das ihr alle gaben, die einen wissentlich, die anderen ohne zu wissen:
         Vater,  Mutter, Geschwister,  Verwandte,  Bekannte, der  ganze Ort.  Der
         Bürgermeister war ja eine öffentliche Figur, und so war das Bild, das ein-
         zige, vor dem sich Anny als kleines Mädchen wiederfand, so gefestigt, so
         kompakt, dass dagegen nur eine Intuition aus dem Inneren stand: <Da
         stimmt etwas nicht!>, ein Nährboden.

            Sobald sich dieser Impuls aus dem Inneren regte  - ihr kennt ja Anny
         nun, da kamen Impulse! - war es sicher ein ‘Zigeunerimpuls‘, das Unge-
         zügelte, das gezähmt werden musste, die schwersten Mühlsteine jener
         Zeit. Sie trafen auf dieses junge Weizenkorn, dessen Recht auf Wasser
         und Sonne sich mit wunderschöner Kraft durchsetzte, mitgebracht auf
         der langen Reise zur Erde. Anny bewahrte sehr lebendige Erlebnisse aus
         ihrer Jugendzeit, eine Wachheit, die immer wieder Barrieren durchbrach
         und ihr eine Intensität an Erfahrungen brachte, die früher formte, als dies
         bei den meisten der Fall ist.

            Kritisch wurde es, als Anny in die Pubertät kam, den ‘Kochtopf des
         Lebens‘. Ihr Gefühl von <Es fühlt sich nicht richtig an> war in den Jahren
         ihres jungen Lebens mitgewachsen und zeigte sich an der Oberfläche
         der Haut, der Membrane zwischen dem inneren und äusseren Leben.
         Anny wunderte sich über ihr tiefes Misstrauen gegenüber den Autori-
         täten, ihrem Vater, dem Pfarrer, es gab keinen vernünftigen Grund dafür.
         Sie hatte zu jener Zeit eine gute Freundin, etwa im gleichen Alter, mit der
         sie all die Fragen erörterte.


            Es war auch die Zeit des Religionsunterrichtes, der Beichte und der
         ersten Kommunion. Daran erinnerte sich Anny jeweils mit grossem Ver-
         gnügen: <Ich war immer dann am Wachsten, wenn es um Fragen des
         richtigen oder falschen Lebens ging, und meine Freundin verstand ein-
         fach alles; sie war so anders als die Menschen, die sonst um mich herum


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