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natürlich überhaupt nicht erwartet, und sie schaute mich ratlos an. So
         nahmen die Dinge ihren Lauf>.

            Statt der Wahrheit kam das, was Anny das erste Mal an ihrem eige-
         nen Leib erlebte, eine Kettenreaktion, die ich euch hier nicht wiederho-
         len möchte. Ein Gespräch zwischen dem Pfarrer und dem Bürgermeister
         löste Unverhofftes aus, Anny wurde in ein katholisches Internat gebracht,
         ganz in der Nähe, die Vorsteherin war die Schwester des Bürgermeisters.

            Und wiederum war für das junge Mädchen nicht nachvollziehbar,
         wie eine solche Frage eine derartige Reaktion auslösen konnte, wo wa-
         ren da die Zusammenhänge? Anny hielt sich nicht lange damit auf, sie
         fühlte sich nur unverhofft vom Schicksal noch viel näher zu dem hinge-
         bracht, den sie ja sowieso schon als den spannendsten Menschen emp-
         fand, der wohl je gelebt zu haben schien, wenn man sah, wie man sich an
         ihn noch erinnert.

            Dass immer wieder Strafen kamen, Zurechtweisungen, ‘Zähmungs-
         versuche‘, daran hatte sich Anny schon so gewöhnt, dass sie ihr gar nicht
         mehr auffielen. Sie empfand sich keineswegs irgendwie eingeengt im
         Internat, ein neues Gebiet hatte sich ihr aufgetan, und sie lebte tagtäg-
         lich mit Frauen zusammen, Schwestern, die ihr Leben Jesus gewidmet
         hatten, was wollte sie noch mehr?

            Manchmal  verbrachte  sie  zur  Strafe  ganze  Nachmittage  auf  dem
         Dachboden, nur mit der Bibel, der spannendsten Lektüre, die sie je an-
         getroffen hatte. So wurde Anny auf die beste Weise ‘rusée‘, um sich ein
         tieferes Studium zu sichern, als ihr die ‘normale‘ Internatsschule anbieten
         konnte. Eine junge Novizin schien zu erkennen, aus welchen Gründen
         Anny immer wieder Strafen provozierte, bei der Vorsteherin löste es et-
         was ganz anderes aus.
            Wenn sie schon da lebte, wollte sich Anny das Leben, Jesus gewid-
         met, auch wirklich mit Haut und Haaren vorstellen. So schlich sie sich
         eines Nachmittags in die Zelle einer der Schwestern, die die Türe offen


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