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Doch zurück zu Anny. Ihr Zustand, eine Art Gefühlsstarre, die sie ein-
        fach lahmlegte, begann allen Menschen in ihrem Beziehungsfeld wirklich
        Angst zu machen, und ihr Verhalten der kalten Distanz gegenüber dem
        Zigeunerkind weichte sich auf, besonders in ihrem Vater, der unerklärli-
        cherweise plötzlich mit der Schwester grosse Konflikte zu haben schien,
        für Anny weiter nicht erklärlich, doch nahm sie es wahr, auch eine Verän-
        derung im Verhalten der Vorsteherin.

           So besserte sich ihr Zustand nach und nach. Sie erinnerte sich an das
        Bild, das sie sich eingeprägt hatte in der Zelle, und dies schien auch irgend-
        wie ihren Gesundheitszustand zu verbessern, die Lebensgeister kehrten
        langsam zurück. Anny wurde sich bewusst, dass sich ein Teil ihres tiefen
        Misstrauens gegenüber den Autoritäten (das ihr ja selber unbegreiflich
        blieb) aufgelöst hatte. Verwundert nahm sie es wahr und erkannte dar-
        in auch etwas weiteres: ‘Da stimmte wirklich etwas nicht‘, und es schien
        ihre Umgebung ebenso zu belasten, wie sie es zuvor nur in sich selber so
        wahrgenommen hatte, seltsam!

           Ihr Vater kam sie nun öfters besuchen; Anny empfand deutlich, dass
        er litt, und so fragte sie ihn eines Tages: <Was hast du denn? Was be-
        drückt dich?>. Es war der Tag, an dem sie das erste Mal die Wahrheit
        über ihr eigenes Leben und ihre Herkunft erfuhr.
           Natürlich war diese Nachricht ein Auslöser, für den Anny viel Raum
        und Zeit brauchen würde. Und ihr wurde klar, dass die Mauern des Inter-
        nats dafür viel zu eng waren. Mit Hilfe der verständigen Novizin packte
        sie ihre Sachen, und machte sich einfach auf, ohne Umschweife, ohne
        zurückzuschauen. Sie war sechzehn geworden und wusste nun, dass da
        noch die Familie ihrer Mutter war, und diese musste sie kennenlernen.
        Sie hatte von ihrem Vater die Namen erhalten, so fast das Einzige, das
        gesichert war an Dokumenten. Doch wusste sie weder, wo sich die Sippe
        aufhielt, noch wie sie mit ihnen in Verbindung treten könnte.

           Doch sie schaffte es, ich fragte nie nach, wie dies geschah, was sie da
        alles erlebte. Ich hatte in Spanien gelebt und Flamencogitarre gelernt;


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