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freute sich, eine so reiche Zeit am Mittelmeer verbringen zu können, und
         Anny erschien ihnen irgendwie wie die Verkörperung dieser Erlebnisse.
         Und so taten sie, was wir alle getan hätten - beim Abschied gab ihr der
         Mann seine Visitenkarte und sagte: <Wann immer du mal nach Berlin
         kommst, komm bitte bei uns vorbei, unsere Familie würde sich sehr freu-
         en, du wirst immer eine offene Türe finden!>

            Es vergingen vielleicht zwei, drei Monate, als es in Berlin an der be-
         sagten  Adresse  läutete.  Das  Dienstmädchen  öffnete;  da  stand  Anny,
         mit Koffern und allem, was sie hatte. Der Offizier und die ganze Familie
         waren überrascht, doch baten sie Anny herein, natürlich. Bei einer Tasse
         Tee und Gebäck wurde das Wiedersehen gefeiert und die Neuigkeiten
         ausgetauscht. Anny sagte: <Es war so wunderbar und überraschend! Ich
         fühlte mich sofort zu Hause, frag mich nicht weshalb, doch es war so.>

            Die Berliner Familie wusste jedoch noch nichts von ihrer Empfindung
         und freute sich einfach über diesen Gegenbesuch einer Urlaubsbekannt-
         schaft. Im Verlaufe der angeregten Unterhaltung fragte dann die Dame
         des Hauses: <Wie lange hast du dir deinen Aufenthalt hier vorgestellt!
         Du kannst gern bei uns bleiben, wir haben ein Gästezimmer. Willst du
         eine Woche bleiben, oder zwei?>

            Annys Antwort löste etwas aus: <Ich will hier bleiben, deshalb bin ich
         hergekommen; ihr seid für mich die einzige Familie, die ich habe auf der
         Welt. Doch möchte ich euch nicht zur Last fallen, ich kann viele Arbeiten
         machen, auf die Kinder aufpassen, das Haus putzen, alles, was nötig ist,
         ich scheue mich nicht, Tag und Nacht zu arbeiten, wenn es sein muss. Ich
         bitte euch, gebt mir eine Möglichkeit, mein Leben hier aufzubauen, und
         ich möchte auch eine Lehre machen als Schneiderin.>…


            Es kam so, und Annys Leben hatte sich innerhalb eines Jahres so
         grundlegend gewandelt; sie fand sich in jener Stadt wieder, in der gerade
         etwas seinen Lauf nahm, das wiederum tiefe Spuren in ihrem Gemüt
         hinterlassen würde. Es waren die späten Dreissiger Jahre, und sie hatte im
         Herzen ihres Beschützers etwas berührt, das in tiefem Kontrast lag mit


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