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soldateNstiefel iN BerliN uNd eiNe rückkehr
Die Erlebnisse ihrer eigenen Jugend in diesem kleinen welschen Ort
schienen sich wie in einem Vergrösserungsglas nochmals abzuspielen,
doch da waren ein paar neue Elemente mit im Spiel. Eine lebendige Va-
terfigur, die aktiv war und zeigte, wie sie handelte und empfand, ein wei-
tes Feld der Betätigung - Anny war bald eine gute Schneiderin und er-
hielt Aufträge, so dass sie sich ein unabhängiges Leben geschaffen hatte.
Sie war ja gerade blühende zwanzig Jahre alt geworden, und ich kann mir
gut vorstellen, wie viele junge Männer hinter ihr her scharwenzelten…
‘L‘amour est enfant de bohême‘…
Doch da war auch Armut und eine Bedrohung, die dem Offizier, wo
sie ihr erstes Heim in ihrem Leben gefunden hatte, sehr bewusst war;
Anny hatte der Familie im vollen Vertrauen ihre ganze Lebensgeschichte
erzählt, und alle waren sich klar, was da über ihr schwebte. Das gegensei-
tige Band der Freundschaft zwischen Anny und der deutschen Familie
war eines dieser hoffnungsvollen Beispiele, wie beschränkt Doktrinen
und Ideologien doch sind gegenüber dem, was Leben ist. Doch konnten
sie natürlich die Augen nicht verschliessen vor den Entwicklungen, Annys
Pass lag bei den Behörden, und die Bürokratie des Regimes war effizient
und durchkämmte mit immer feinerem Raster alle Bürger, besonders die
Ausländer.
Der Offizier erkannte dann in den späteren Kriegsjahren irgendwann,
dass er Anny nun nicht mehr beschützen können würde. Er riet ihr daher,
so schnell wie möglich in die Schweiz zurückzukehren, man würde sicher
ihre Zigeunerherkunft als Grund nehmen, sie in ein Konzentrationslager
zu schicken. Wie viele Menschen haben dies erlebt! Auch aus diesem
Grund bin ich zutiefst dankbar, Anny kennengelernt zu haben. Sie gab
mir die Möglichkeit, tiefer mitzufühlen, auch wenn sie mir nur wenig
über jene Zeit erzählte. Es gab mir die Möglichkeit zu erkennen, wie sich
die Muster unserer eigenen Erlebnisse geformt hatten.
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