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So setzte er Anny in Untersuchungshaft, für die Zeit, die sie brauch-
         ten, um ihre Angaben zu überprüfen. Anny erzählte es so: <Es war das
         Absurdeste, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt hatte, und mein
         Erschrecken darüber, wie Menschen sein können, war in diesem Augen-
         blick wirklich zutiefst erschütternd; ich glaube, es ging mir noch viel tiefer
         als die Bilder, die mich in Deutschland begleitet hatten.>

            Anny erhielt in ihrer zweiten Zelle, die sie kennenlernte, wie alle an-
         deren Häftlinge, ihr erstes Frühstück in der freien Schweiz: Weisses Brot,
         Kaffee, Milch, Zucker, Butter, Honig. Und sie durfte sich auch noch ein
         ‘supplément‘ nachbestellen, wenn sie dies gekonnt und gewollt hätte!

                                      

            So war Anny zurück in der Schweiz. Seit ihrem abrupten Weggang
         waren vielleicht sieben Jahre vergangen, und ihre Erfahrungen liessen sie
         ihre eigene Jugend mit ganz anderen Augen betrachten. Sie lernte nun
         ihre Halbgeschwister so kennen, wie sie dann auch ihr ganzes Leben lang
         mit ihnen einen guten Kontakt hielt, ihr Leben entfaltete sich. Sie erzähl-
         te mir aus einer Zeit in Paris nach dem Krieg, einer Freundin, die ganz
         Ähnliches wie sie erlebt hatte, von  Abenden im Casino, wo auch Jean
         Gabin war. Ihr Schmunzeln und das Strahlen in ihren Augen, wenn ihr
         jene Zeiten in den Sinn kamen, erzählten alles.

            Auch gab es da eine andere Episode; sie war in Tunesien, und ein jun-
         ger Mann, Sohn eines Scheichs, hatte sich unsterblich in Anny verliebt,
         und sie freute sich ebenso über die Feinheit dieses Mannes. Sie hatten
         eine Romanze, die ein paar Monate dauerte; dann bat der junge Tu-
         nesier, ob sie ihn heiraten würde. <Nous étions vraiment tout près! Ich
         hätte mir ein Leben in Tunesien wirklich gut vorstellen können, die Men-
         schen waren so fein, so gebildet in ihrem alltäglichen Leben, ohne dass
         sie Universitäten besucht hätten. Die Musik, die Poesie, der Gesang lebte
         einfach in ihnen, beim Kochen, beim Putzen, bei allen Arbeiten, und ich
         fühlte mich sehr wohl da, auch mit den anderen Frauen, die er in seinem
         Harem bereits hatte.>


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