Page 77 - Ebook-TragendeGrund
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So setzte er Anny in Untersuchungshaft, für die Zeit, die sie brauch-
ten, um ihre Angaben zu überprüfen. Anny erzählte es so: <Es war das
Absurdeste, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt hatte, und mein
Erschrecken darüber, wie Menschen sein können, war in diesem Augen-
blick wirklich zutiefst erschütternd; ich glaube, es ging mir noch viel tiefer
als die Bilder, die mich in Deutschland begleitet hatten.>
Anny erhielt in ihrer zweiten Zelle, die sie kennenlernte, wie alle an-
deren Häftlinge, ihr erstes Frühstück in der freien Schweiz: Weisses Brot,
Kaffee, Milch, Zucker, Butter, Honig. Und sie durfte sich auch noch ein
‘supplément‘ nachbestellen, wenn sie dies gekonnt und gewollt hätte!
So war Anny zurück in der Schweiz. Seit ihrem abrupten Weggang
waren vielleicht sieben Jahre vergangen, und ihre Erfahrungen liessen sie
ihre eigene Jugend mit ganz anderen Augen betrachten. Sie lernte nun
ihre Halbgeschwister so kennen, wie sie dann auch ihr ganzes Leben lang
mit ihnen einen guten Kontakt hielt, ihr Leben entfaltete sich. Sie erzähl-
te mir aus einer Zeit in Paris nach dem Krieg, einer Freundin, die ganz
Ähnliches wie sie erlebt hatte, von Abenden im Casino, wo auch Jean
Gabin war. Ihr Schmunzeln und das Strahlen in ihren Augen, wenn ihr
jene Zeiten in den Sinn kamen, erzählten alles.
Auch gab es da eine andere Episode; sie war in Tunesien, und ein jun-
ger Mann, Sohn eines Scheichs, hatte sich unsterblich in Anny verliebt,
und sie freute sich ebenso über die Feinheit dieses Mannes. Sie hatten
eine Romanze, die ein paar Monate dauerte; dann bat der junge Tu-
nesier, ob sie ihn heiraten würde. <Nous étions vraiment tout près! Ich
hätte mir ein Leben in Tunesien wirklich gut vorstellen können, die Men-
schen waren so fein, so gebildet in ihrem alltäglichen Leben, ohne dass
sie Universitäten besucht hätten. Die Musik, die Poesie, der Gesang lebte
einfach in ihnen, beim Kochen, beim Putzen, bei allen Arbeiten, und ich
fühlte mich sehr wohl da, auch mit den anderen Frauen, die er in seinem
Harem bereits hatte.>
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