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waren, mit keinem meiner Geschwister hätte ich je so etwas besprechen
        können, geschweige denn mit den Eltern. Und so war der Religionsun-
        terricht eigentlich das erste Mal eine Möglichkeit für mich, all diese Fra-
        gen überprüfen, es hatte ja in der Menschheitsgeschichte eine Zeit gege-
        ben, in der sich das, was wir heute sind, geformt hatte, so lange her, und
        doch schien mir dies viel näher als meine eigene Familie.

           So waren wir beide immer hellwach, wenn es um die Vorbereitung
        auf die Beichte und die Kommunion ging. Der Leib und das Blut von
        dem, der da vor so langer Zeit gestorben war, dies war uns eher unheim-
        lich, aber die Fragen davor waren höchst spannend: ‘Am Massstab, mit
        dem du urteilst, wirst du selber gemessen werden‘. Wie entstand ein
        Urteil, eine Bewertung, wer hatte das Recht und die Fähigkeit, richtig zu
        beurteilen und wer nicht? Konnte ein einmal gefälltes Urteil wirklich wie-
        der aufgelöst werden? Dieser Jesus gefiel mir wirklich, wie ein grosser
        Bruder, so schön!>.

           Anny war einfach interessiert an den Fragen der Menschheit, lebte
        mit allen Szenen, die vorkamen, und ihr Empfinden, dass sie nun selber
        in diese ‘Fortsetzungsgeschichte der Menschheit‘ hinein gesetzt worden
        war, war direkt verbunden mit der Verantwortung, die sie ihr gegenüber
        empfand; sie war weit entfernt davon, selber urteilen zu wollen, dies fand
        sie einfach langweilig und eindimensional. Je näher sie die Dinge an sich
        heran liess, desto reicher wurden die Facetten, die man erkennen konnte.
        Ihre Bereitschaft, über die Grenzen der Urteile hinaus zu erforschen, hat-
        te eine so lebendige Frische.

           Sie empfand die Menschen, die über Jahre hinweg bei ihren einmal
        gefassten Urteilen stehen blieben, wie Vertreter einer Zeit, in der man
        der festen Überzeugung war, dass die Erde eine Scheibe sei und wenn
        man sich zu weit hinauswagte, ins Bodenlose stürzen müsse. So hatte sich
        auch ihr Motto ausgeformt: ‘Il faut de tout…‘ Sie lädt damit die Men-
        schen zu einer Umsegelung ihrer eigenen Empfindungsfähigkeit ein.





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