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Bekannte von Anny besuchten sie regelmässig und halfen ihr über
        die erste Ratlosigkeit hinweg. Wir trafen uns einmal zum Kaffee, und
        Mäni sagte: <Ich arbeite bei der Plakatgesellschaft und hänge Werbepla-
        kate auf, am Morgen früh machen wir sie bereit, dann fahren wir mit
        unseren Wagen durch die Stadt und den Kanton und kleben die neuen
        Plakate auf, eine selbständige, unabhängige Arbeit.>

          Genau! Zwar hatte ich den Stapel Papier in einer Kiste am Morgen,
        schön eingeweicht, und am Abend hing das Papier an den Plakatwän-
        den, doch eigentlich war es genau das! Dazu hatte ich auch noch nie zu-
        vor wirklich körperliche Arbeit verrichtet, also schien es genau das Rich-
        tige! So hatte der Kompass wieder eine Ausrichtung gefunden, drehte
        nicht mehr wild im Kreise. Das Vergleichen mit früher und jetzt verkniff
        ich mir einfach, es hätte eh nur zu Resultaten geführt, die ich lieber nicht
        betrachten wollte. Nach ein paar Wochen hatte sich auch mein Magen
        beruhigt und ich konnte wieder normal essen. Puuh!

          Die Arbeit gab mir in vieler Hinsicht eine Unabhängigkeit, der Ar-
        beitsrhythmus  war  ganz  anders,  frühmorgens  stand  ich  auf,  und  am
        frühen Nachmittag war die Arbeit meistens getan. Auf den Fahrten zwi-
        schen den einzelnen Plakatwänden begann ich, dem Rhythmus dieser
        neuen Arbeit nachzuspüren - ‘jedes Tun zur Musik?‘, auch das Plakat-
        aufhängen?

          Am ersten Tag regnete es Bindfäden, am zweiten Tag kam der dicke
        Schnee, und am dritten Tag war alles beinhart gefroren. Unvorsichtig, wie
        ich war, hatte ich bei minus 10 Grad einen Aluminiumrahmen angefasst,
        mit der anderen Hand und dem geschliffenen Spachtel versucht, die al-
        ten Plakate abzureissen. Das Resultat war, dass ich mit beiden Händen
        anfror und danach Brandblasen hatte an allen Fingern.

          <Das ist zuviel!>, dachte ich mir, als ich mich wie jener kleine Junge
        fühlte, der an einem Schlittelnachmittag so klamme Finger hatte, (wir
        nannten es den ‘Kuhnagel‘), dass er dachte, er fahre aus der Haut vor
        Schmerz. Natürlich musste ich bei der Erinnerung daran auch lachen, und


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