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Wir  vier  Mitarbeiter  hatten  uns  gegenseitig  ebenso  versprochen,
        die gemeinsamen Nachtessen und die Möglichkeit, die Ereignisse und
        Erlebnisse miteinander zu besprechen, weiter so beizubehalten. Doch
        schienen plötzlich viele andere Dinge wichtiger, Diskussionen darüber,
        wie man sich den ‘Erlebnisdruck von so vielen Hoffnungslosen‘ vom Lei-
        be halten könne. Es kamen, nach langer Zeit wieder, eine ganze Reihe
        von Dealern in das Café, sie sassen herum wie eine Katze, die sich gerade
        zufällig bei einem Nest mit jungen Vögeln niedergelassen hat. Nur einer,
        der schlecht über sie dachte, könnte vermuten, was sie im Schilde führ-
        ten!


           Anny und ich kannten sie alle, ihre Lebensgeschichten, ihre ‘Kunden‘,
        und wir konnten jeweils direkt auf sie zugehen, ihnen erklären, weshalb
        der ‘Deal‘ im Jugendcafé nicht mal in ihrem eigenen Sinn war. Die meis-
        ten waren insofern einsichtig, dass sie es wirklich liessen, das Jugendcafé
        zu ihrem Basar zu machen. Nur wenige waren nicht ansprechbar auf sol-
        che Argumente. All das, was vorher so selbstverständlich getragen hatte,
        schien wie aufgelöst.

           Es  kam  zu  aggressiven  Szenen,  zu  ‘offensichtlichem  Wegschauen‘
        von  Seiten  der  Mitarbeiter,  und  ein  Gespräch  darüber  wurde  beim
        Nachtessen sofort abgeblockt. <Weshalb soll ich wegen einem Klein-
        dealer mein Leben und meine Gesundheit riskieren?> stand plötzlich als
        zentrale Frage da.

           Ich empfand es wie ein Alptraum. Wie war es möglich, dass mit den
        gleichen Gästen, bunt gemischt, mit all ihren Macken, Schäden und Ab-
        sichten - nichts war anders als zuvor! - diese vier Jahre des Vertrauens
        wie auf einen Schlag nichts mehr zu gelten schienen? Es war schwer zu
        ertragen. Viele der Stammgäste schienen sich irgendwohin zu verziehen,
        sie kamen vielleicht für einen Kaffee, ein Sandwich oder eine Suppe vor-
        bei, doch dann gingen sie gleich wieder, irgendwohin, verletzt, verstört,
        auf der Suche nach neuem ‘Zuhause‘.





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