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ich damals wollte, nämlich Musiker werden, Sprache schaffen, musika-
        lische wie Alltagssprache, neu, lebendig! Und die Jugendlichen werden
        hoffentlich daraus Mut schöpfen können, Vertrauen!>. So wollte ich ihr
        das Unvermeidliche versüssen, eine Art Rhabarbercreme, die ich so ger-
        ne hatte, in Worten.

           Doch alle Süsse war weg, als ich ihr Gesicht sah, eine Trauer, wie ich
        sie kaum je in einem Gesicht gesehen habe! Anny war sehr still, weder
        böse noch dagegen, sie hatte genau verstanden, und sie fand es ja sogar
        auch gut! Und doch war die Trauer umso tiefer! Als Anny dann endlich
        ihr Empfinden in Worte fassen konnte, sagte sie: <Ich habe deine Über-
        legungen gut verstanden, lieber Hannes, und doch sagt mir meine Emp-
        findung im Inneren: Du läufst aus deinem eigenen Leben davon! Die Jun-
        gen brauchen dich doch hier und heute; sie müssen dir die Hand geben,
        dich spüren können, so wie du bist!>

           Es gab wohl kaum einen seltsameren Augenblick in meinem Leben
        als diesen! Schon als ich spürte, was Anny da zu formulieren versuchte,
        hatte ich erkannt, dass sie auf eine Weise Recht hatte, die mich in das
        absurdeste Dilemma stürzte, in dem ich mich je befunden hatte. Ich hat-
        te mir die grösste Mühe gegeben, den ganzen Bewusstseinsprozess, der
        seit ein paar Monaten in mir in Bewegung war, durchzuarbeiten, mit der
        grösstmöglichen Ehrlichkeit gegenüber mir selber, gegenüber den Idea-
        len unserer Arbeit, gegenüber der tiefen Freundschaft, die ich für Anny
        empfand.

           Und all dies schien mein höchsteigenes Manöver, mit bestem Wissen
        und Gewissen, mich aus meinem eigenen Leben zu befördern! Etwas
        Ungereimteres hatte ich noch nie erlebt! Anny hatte völlig recht! Doch
        meine Überlegungen waren ebenso völlig recht! Wochenlang war ich
        danach unterwegs wie einer,  der sich jeden Tag die Sonne auf die Haut
        scheinen lässt und sagt: <Es ist so dunkel, wenn doch nur die Sonne schie-
        ne!> Dies war mir völlig klar, weder die Arbeit litt darunter, noch unsere
        Hingabe und Fürsorge für das, was wir am liebsten hatten, und das uns
        nun nur noch für eine kurze Zeit so beschert sein würde.


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