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an die er sich in seinen ersten paar Schnuppertagen wie an einen Ret-
        tungsring klammerte.

           Doch war es noch nicht soweit. Er hatte sich vorgestellt, und wir be-
        schnupperten uns gegenseitig. Danach war eine Phase geplant, in der
        Anny ihn auf die neue Aufgabe vorbereiten würde, in Form von Gesprä-
        chen, im Austausch mit dem Leitenden Ausschuss, so könnte ein har-
        monischer Übergang gewährleistet werden. Ich meinerseits wollte dieser
        Abmachung das Vertrauen schenken und alles tun, um diesen Prozess
        zu unterstützen, doch begann sich gleichzeitig in meinem Innern etwas
        zu regen.

           Eine Erkenntnis nahm langsam Form an, die mir eigentlich überhaupt
        nicht gefiel; sie schien nur Trennung und Zusammenbruch anzukündi-
        gen. Doch hatten wir ja keine Wahl, wir arbeiteten weiter und versuchten
        alles, dieses Gefühl gemeinsam zu überwinden, für unsere Gäste. Diese
        stellten zwar oft Fragen, doch erkannten sie zum Glück unsere tiefere
        Sorge nicht. Für viele von ihnen war es ja nichts anderes als das, wie es
        auch der Leitende Ausschuss sah, eine Personalmutation in einer Institu-
        tion, die ihren Kaffee vor und nachher ausschenken würde.

           Es war nicht für alle so, und um die sorgte sich Anny, zu Recht. So
        stand sie nochmals vor diesen gleichen Unzulänglichkeiten, die sie wäh-
        rend ihrer fast fünfzehn Jahren der Arbeit im Jugendcafé immer beglei-
        tet hatten. Das Vertrauen, das die Gäste in sie gesetzt hatten, brachte
        tiefere Verpflichtungen mit sich, Gespräche zwischen den Jugendlichen
        und den Institutionen, in die die meisten von ihnen eingebunden waren,
        freiwillig oder unfreiwillig, Fürsorge, Justiz, Psychiatrie.

           Oft kapitulierten die Jugendlichen, weil sie sich vor zu hohen Schran-
        ken sahen, die Verständnis nicht ermöglichten. Da waren Eltern, die mit
        ihren Kindern mehr als zehn Jahre nicht mehr gesprochen hatten, seit
        der ominöse Satz irgendwann gefallen war: <So bist du nicht mehr unser
        Kind‘. >




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