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die Last all unserer lieben Gäste in meinem eigenen Gemüt mitemp-
         fand; ihnen gab es die Vertrautheit, die nun ebenso unbeschränkt war
         wie gegenüber Anny. Dieses ‘einfach unbeschränkt Geben‘ war es, das
         mir Angst zu machen begann. Ich empfand meine eigenen Kräfte am
         Schwinden und konnte mir kaum vorstellen, dass ich je wieder die Ener-
         gie haben würde, wieder einmal zu tun, was mein eigentliches Ziel des
         Aufbruchs gewesen war, mit siebenundzwanzig.

            In Spanien hatte sich so viel vorbereitet, Monate der Träume, der
         Vorstellungen, wie Leben sein müsste; da war ein Name, den ich in einem
         der Träume gehört hatte, ein Unbekannter hatte ihn mir gegeben, wie
         eine Truhe, in dem etwas bewahrt werden könnte… Mit Anny hatte ich
         erlebt, was zu hüten sich lohnte, doch dies schien zu Ende zu gehen. Ich
         hatte meine gestalterischen Werkzeuge, die Arbeit an der Gitarre, an der
         Sprache einfach vernachlässigt, sie waren verkümmert. Irgendwie schien
         es mir, dies sei der Preis, den ich für das Geben im Jugendcafé bezahlen
         müsse.

            All dies wurde mir im Verlauf jener Zeit bewusst, in der Anny mit
         Bitterkeit erkennen musste, dass unsere Arbeit im Jugendcafé mit den
         neuen Mitarbeitern kaum so weiterleben würde. Irgendwie schienen die
         Mitglieder des Leitenden Ausschuss sogar zufrieden mit dieser Perspek-
         tive, sie hatten es so oft auf das ‘Anny-Café‘ reduziert, und aus ihrer Sicht
         war eine Korrektur des Zielpublikums überfällig.

            Die Gäste waren die gleichen geblieben, über die Jahre hinweg, es
         war ihr Zuhause, und das Durchschnittsalter des ‘Jugendcafés‘ lag nun
         schon weit über fünfunddreissig. Natürlich kamen auch immer wieder
         Jugendliche zwischen zwölf und zwanzig, doch jene, die das Café als ihr
         ‘Zuhause‘ betrachteten, waren zwischen dreissig und neunzig! Von Zeit
         zu Zeit kamen auch ein paar Prostituierte für eine Suppe herein, wenn
         sie von ihrem ‘maquereau‘ zu sehr bedrängt wurden.


            Es war ja eigentlich eine Entwicklung, die völlig natürlich war, sie hatte
         ihren eigenen Rhythmus, von Zeit zu Zeit erneuerte sich der Schwer-


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