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schene Gebiet, doch mit seiner Eile schien es auch die Lust der Gespens-
        ter anzustacheln, ihm Angst einzujagen… Mit der Zeit wusste es weder
        ein noch aus und sprach eines Abends mit seiner Mutter darüber.

          Die Mutter war weise, sie sagte: <Die Gespenster leben von unserer
        Angst; je mehr wir rennen, desto grösser werden sie! Wenn du also eines
        siehst, dann halte an, schau es an und sprich mit ihm, frag es, weshalb es
        hier sei? So werden Gespenster zu dem, was sie wirklich sind, nämlich
        nur ein Schatten.> Dem Mädchen leuchtete es sofort ein, dies machte
        Sinn! Doch nach einer Weile des Überlegens kam es zur Mutter in die
        Küche und sagte: <Danke, liebe Mutter, für den Rat; doch was soll ich tun,
        wenn das Gespenst dies auch weiss? Auch Gespenster haben Mütter!>
          Ein Teil des Abschieds schien irgendwie bereits hinter uns zu liegen,
        und so näherte sich der Tag, an dem Anny wirklich das letzte Mal im Ju-
        gendcafé ihren Abend verbringen würde.

          Die Gäste hatte den ‘Neuen‘ beschnuppert, und wir hatten uns die
        grösste Mühe gegeben, diesen Annäherungsprozess so gut wie möglich
        zu unterstützen. Sie waren ihm auch sehr wohlgesinnt, und Hoffnung
        keimte auf, dass es sich doch noch fügen würde. Annys letzter Tag im Ju-
        gendcafé war da; er war still, voller Wehmut, äusserlich ein ganz gewöhn-
        licher Arbeitstag. Keine Blumen, keine besonderen Zeremonien, nichts.
        Anny wollte es nicht, und ich war ganz zufrieden damit, die Gäste eben-
        so, sie waren nicht so erpicht darauf, ihre Gefühle zu zeigen; alle waren
        sich des besonderen Tages bewusst, doch herrschte eher Verlegenheit.
                                    
          Der erste Tag nach Annys Pensionierung, ein Dienstag (montags war
        jeweils geschlossen), begann bei mir mit einem ganz flauen Gefühl im
        Magen, mit dem Eindruck, dass viel zu viel nicht besprochen, nicht vor-
        bereitet war, um die Arbeit weiter tragen zu können. Wir hatten verein-
        bart, dass Anny am Anfang einmal pro Woche, später einmal pro Monat
        bereit wäre, unsere Arbeit zu ‘supervisionieren‘. Doch dies geschah dann
        nur zwei– oder dreimal, es war eher fruchtlos.


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